So schwer wie es ist, über dieses Thema zu schreiben und
die richtigen Worte zu finden, so schwer ist es auch zu vergeben: Anderen und
sich selbst.
Es scheint jedoch einfacher zu sein, einem anderen irgendwann zu
vergeben.
Ihn zum alleinigen Schuldigen zu erklären, geht jedenfalls
wesentlich schneller. Es ist ja auch leichter, beim anderen Wunden zu erkennen,
als seine eigenen wahrzunehmen. Salz streut sich bei anderen viel besser.
Genauer hinzusehen, Handlungen und Verurteilungen (auf
beiden Seiten) genauer zu hinterfragen kostet Kraft und erfordert Ehrlichkeit
mit sich selbst.
Dem anderen später wirklich vergeben zu können ist ein
langer Weg. Vermutlich mit vielen Tränen, Wut und vielleicht sogar mit
Rachegelüsten.
Die Vergangenheit lässt sich nun mal nicht mehr
korrigieren. Aber ich kann lernen, sie loszulassen. Ob ich es jemals vergessen werde,
steht auf einem ganz anderen Blatt.
Der Weg zurück zu mir beginnt mit einer Korrektur meiner
ganz persönlichen Sichtweise.
Wahrscheinlich stellt sich früher oder später auch die
Frage, ob ich hätte anders handeln können.
Viele glauben nun, es wäre wenig sinnvoll ernsthaft darüber nachzudenken.
Doch wenn ich nicht bereit bin, mein eigenes Verhalten noch
einmal anzuschauen, wie will ich dann aus meinen vergangenen Erlebnissen etwas
lernen? Wie will ich sie verwandeln, wenn ich nicht hinsehen will und sie am
liebsten komplett aus meinem Gedächtnis streichen möchte?
So mancher wird jetzt sagen: "Du konntest nicht anders
handeln, sonst hättest Du es ja getan!"
Aber so einfach ist das vermutlich nicht.
Ab einem gewissen Alter sollte ich sehr wohl in der Lage sein, (mehr oder weniger) meine ganz persönlichen Interessen auch entsprechend
durchzusetzen.
Dennoch fällt genau das den meisten Menschen schwer.
Warum ist es immer wieder eine Herausforderung?
Weil wir alle Angst haben, die Konsequenzen unserer
Handlungen zu tragen.
Wir haben Angst davor, allein und ungeliebt
zurückzubleiben.
Wir passen uns lieb und brav an - auch wenn wir das gar nicht
wollen.
Erst wenn der eigene Leidensdruck übermächtig und
erdrückend ist, bin ich zu einer Aktion fähig.
Wenn ich aber wirklich ehrlich
zu mir selbst bin, muss ich mir eingestehen, dass ich schon viel früher hätte
handeln müssen.
Später versuche ich vielleicht, dem anderen zu vergeben, was er mir
angetan hat.
Was habe ich mir eigentlich in all der Zeit selbst angetan?
Der Weg zur eigenen Vergebung kann noch Jahre dauern und
viele Hindernisse haben.
Der erste Schritt ist vielleicht gemacht, wenn ich erkennen
kann, dass auch ich an den Ereignissen nicht ganz so unbeteiligt war wie ich das gerne gewesen wäre. Schließlich hätte ich ja auch sofort meine unangenehmen Gefühle wahrnehmen und nein sagen
können. Aber ich tat es nicht. Ich habe lieber mich selbst und meine Gefühle
und Ängste verleugnet.
Eine solche Erkenntnis könnte mir neue Türen zu mir selbst öffnen. Jetzt kann
ich lernen, mir selbst zu vergeben.
Wer allerdings denkt und hofft, der Weg der Vergebung wäre
danach zu Ende und alles wäre geheilt, der könnte sich irren.
Denn um eine wirkliche Heilung zu erreichen, muss jeder für sich selbst seinen
eigenen Frieden schließen. Und dieser Frieden setzt noch einen weiteren Schritt
voraus: Den anderen um Vergebung bitten.
Warum sollte ich aber einen anderen um Vergebung bitten,
für das, was er mir angetan hat?
So ein Blödsinn!
Doch es ist kein Blödsinn. Wenn ich nämlich damals für mich
selbst gesorgt hätte, dann wäre seine Handlung vielleicht gar nicht zustandegekommen.
Was aber, wenn der andere mit nicht vergeben will? Wenn er
meine Bitte mit Hass und Wut beantwortet? Wie kann ich damit umgehen?
Für mich war es wichtig, zu erkennen, dass ich einen
anderen nicht zu Veränderungen veranlassen kann. Somit auch nicht dazu, dass er mir
vergibt.
Er hat seinen eigenen Weg.
Wie lang dieser sein wird und ob er mit
jemals vergeben wird, all das kann ich nicht beeinflussen. Ich kann ihn
vielleicht noch mit meinen guten Gedanken begleiten und ihm Kraft wünschen. Aber
ich kann niemals seinen Weg für ihn gehen.
Vielleicht ist mein eigener Weg zur Vergebung auch gar
nicht von seiner Antwort abhängig.
Mein Bewusstsein und meine Wahrnehmung haben
sich schon verändert.
Ich habe mich verändert.
Ich habe Verantwortung für mich
übernommen und bin auch bereit, die Konsequenzen zu tragen.
Ich habe mich
entschlossen, besser auf mich zu achten und nein zu sagen, wenn ich nein sagen
will.
Es ist ein langer Weg, mit vielen Tränen, mit Schmerz und
manchmal auch mit Hilflosigkeit und Verzweiflung.
Es ist ein Weg zu mir selbst.
Dieser Weg beginnt mit einem kleinen, unsicheren, ersten Schritt.
Doch er lohnt sich immer!
© Cornelia G. Becker
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